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Lebensräume: Das jüdische Seniorenheim in München

Nachts kehrt die Vergangenheit zurück

Zwischen Holocaust und Laubhüttenfest: Wo sich Belegschaft und Bewohner als Schicksalsgemeinschaft verstehen

Tagsüber war die alte Dame stets vollkommen klar, nachts kehrte die Vergangenheit zurück. Immer wieder wachte sie auf, von Schweißausbrüchen und Herzrasen getrieben: „Ich habe meine Lagernummer vergessen”, rief sie panisch. „Ich muss mich doch beim Morgenappell mit meiner Lagernummer melden.” Todesangst quälte die ehemalige Insassin des Konzentrationslagers Theresienstadt, an Schlaf war nicht mehr zu denken. Über den Internationalen Suchdienst des Roten Kreuzes fanden ihre Altenpfleger schließlich die Lagernummer heraus. Wenn sie nun nachts aufwachte, konnte man ihr die Nummer sagen, und sie schlief beruhigt wieder ein. Dinah Zenker, Pflegedienstleiterin des jüdischen Saul-Eisenberg-Seniorenheims in München, erzählt die Geschichte der inzwischen verstorbenen Bewohnerin.

Haus der Geschichte

Mitten in Schwabing liegt das Saul-Eisenberg-Seniorenheim, ein Ort mit Geschichte. Die Nazis requirierten das Haus 1942 ausgerechnet für Himmlers „Lebensborn”, der Brutstätte für „rassenreinen” Nachwuchs.  Nach der Befreiung wurde es an die jüdische Gemeinde zurückgegeben, die sich hier im Juli 1945 neu gründete und wieder ein Altersheim einrichtete. Damals zählte man rund 400Personen jüdischer Herkunft in der Stadt. Etwa 8500 Mitglieder hat die Gemeinde heute. In den 80-er Jahren wurde der Altbau abgerissen, das neue Haus entstand.

„Wir haben 56 Betten”, sagt Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Kultusgemeinde. Die Warteliste sei lang, viele Bewerber könnten nicht aufgenommen werden. Als „multikulturell” bezeichnet Knobloch die Atmosphäre. Viele seien nach dem Krieg aus den ehemaligen Ostblockstaaten, aus Polen, Rumänien oder der früheren Tschechoslowakei, nach München und Umgebung gekommen. Ein Viertel sind Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion, vor allem aus der Ukraine, aus Moskau und St.Petersburg, nur zwei stammen aus Deutschland. Viele dieser Menschen sind Holocaust-Überlebende.

Im Vergleich zu jüdischen Altersheimen in anderen deutschen Großstädten ist das Münchner Haus relativ klein, die Atmosphäre intim. An der Pforte vorbei gelangt der Besucher in den großen, hellen Aufenthaltsraum, an den sich ein Garten anschließt. Gleich links am Eingang befindet sich eine Synagoge mit zwei getrennten Abteilungen für Männer und Frauen. Durch den Aufenthaltsraum hindurch gelangt man in den Speisesaal. Die Verpflegung ist koscher. „Für die Bewohner ist die jüdische Kultur sehr wichtig”, erklärt Charlotte Knobloch. „Hier können sie jüdische Feiertage und Feste, zum Beispiel das Laubhüttenfest, zusammen feiern. Sie sind im Alter gerne unter sich und reden über die Vergangenheit.” Und aus eben dieser Vergangenheit ergibt sich die Besonderheit der Pflege.

„Ohne das Wissen um die Biografie des Einzelnen gibt es keine richtige Betreuung für unsere alten Menschen”, sagt Pflegedienstleiterin Dinah Zenker. „Wir können nicht starr an einmal gemachten Pflegeplänen festhalten, sondern müssen die Pläne an den Lebenserfahrungen der Bewohner ausrichten.” Es gelte, die Lebensgeschichte des Einzelnen auf einfühlsame Art und Weise zu erfragen und herauszufinden, wo seine Ängste liegen. In ihrer „aktiven” Lebensphase hätten die Bewohner oftmals die Vergangenheit erfolgreich verdrängt, im Alter jedoch hole viele das Erlebte wieder ein, die Verdrängung funktioniere nicht mehr. Alltägliche Begebenheiten lösen dann manchmal schwere Krisen aus. Die Frage „Wollen Sie heute duschen?” kann einen ehemaligen KZ-Insassen in Todesängste versetzen. Ein Behördenbrief, in dem die Verlängerung des Reisepasses angemahnt wird, kann traumatisch wirken. Als „Schicksalsgemeinschaft” bezeichnet Zenker Bewohner und Belegschaft.

Aufstehen, Frühstück machen, Zeitung lesen, Medikamente vorbereiten, Punkt zwölf Mittagessen, Briefe schreiben, Fernsehprogramm studieren, Abendessen vorbereiten. Der Tagesablauf von Irma Putziger, der ältesten Bewohnerin, ist, wie sie selbst sagt, militärisch organisiert. „Mein Leben lang habe ich sehr diszipliniert gelebt”, erläutert die 95-Jährige, die vieles noch selbst erledigt.

Disziplin hat sie gebraucht in ihrem Leben. „Denn es war nicht leicht, immer wieder von vorne anzufangen.” München, Wiesbaden, Haifa, New York, Kalifornien sind die Stationen ihres Lebens. „Aber je älter ich wurde, desto mehr zog es mich nach München”, sagt Frau Putziger. Sie ist eine der beiden deutsch-jüdischen Heimbewohner – ein echtes Münchner Kindl. Das Saul-Eisenberg- Seniorenheim hat sie ausgewählt, weil schon ihre Mutter hier gelebt hat und weil sie Angst hatte, in anderen Heimen alten Nazis zu begegnen. Auf jüdische Traditionen hingegen gibt sie nicht so viel: „Mein Bruder hat immer gesagt: Ich bin als Jud’ geboren – und das ist es.”

Süddeutsche Zeitung, Mietmarkt, 24.1.2003