Artikel » Hörschnecke an Großhirn (PDF anzeigen)

Wenn am Münchner Klinikum rechts der Isar Cochlea-Implantate eingesetzt werden, führt ein Ingenieur Aufsicht

Von Stefan Siegfried

Das Grobe ist erledigt, der Gang zum Mittelohr gefräst. An Hammer, Amboss und Steigbügel vorbei hat der Chirurg millimeterdünne, silikonummantelte Drähte, sogenannte Elektrodenträger, mit Häkchen, Gabeln und Zangen in die Cochlea, die Hörschnecke im Innenohr des Patienten, eingeführt. Ein paar Zentimeter weiter hinter dem Ohr sitzt nun ein Elektronikgehäuse am Schädel des Patienten – in einem eigens gemachten Bett, mit Fäden befestigt. Das Bohren war eine langwierige Angelegenheit, das Felsenbein über dem Innenohr ist der härteste Knochen des menschlichen Schädels. Mehr als anderthalb Stunden hat die Operation gedauert, zwei Chirurgen haben sich abgewechselt. Immer wieder kamen Ärztekollegen im OP vorbei und verfolgten interessiert, wie dem Patienten eine Hörhilfe implantiert wurde.

Nachdem die Kabel verlegt sind, weist der leitende Oberarzt an: „Messungen vorbereiten”. Hans-Joachim Steinhoff rollt einen Wagen neben den Operationstisch, auf dem ein PC mit Zusatzgeräten steht. Über ein Kabel schließt er den Computer an das Elektronikgehäuse an. Die erste Messung verläuft reibungslos, das Gerät funktioniert: „Der Widerstand ist okay!”, sagt Steinhoff und kündigt an: „Ich stimuliere jetzt!” Über das Implantat schießt der Diplom-Ingenieur Strom zu den Gehörknöchelchen, doch nichts tut sich. Mehrmals wiederholt er seine Ansage: „Jetzt!” Schließlich sagt er: „Ich bin an der Leistungsgrenze!” Normalerweise zieht sich der Steigbügel im Mittelohr zusammen, wird er durch Strom stimuliert, also wenn es laut wird – das nennt man den Stapediusreflex. Doch der ältere Patient hat eine Otosklerose, eine Verknöcherung in diesem Bereich.

Einfühlsamer Elektroniker

Dass der Reflex ausbleibt, war für Steinhoff und die Operateure absehbar. Der Ingenieur geht zur dritten Messung über: Über das Implantat stimuliert er den Hörnerv, und testet, ob das Gerät den Strom auf die Hörbahn leitet. Die Messung verläuft erfolgreich. Als Steinhoff fertig ist, klappt der Chirurg den Hautlappen wieder nach oben und vernäht die Wunde. Nur wenige Minuten später wird der Patient aus der Vollnarkose aufgeweckt. Hinter seinem rechten Ohr trägt er nun, unter der Haut, ein Cochlea-Implantat (CI).

Für Steinhoff, Leiter der Audiologie, und die behandelnden Ärzte und Schwestern im Münchner Klinikum rechts der Isar ein Routineeingriff. Etwa 25 bis dreißig Cochlea-Implantate werden hier an der Hals-Nasen- Ohrenklinik und Poliklinik pro Jahr einpflanzt.

Ein Cochlea-Implantat ist eine Prothese für taube und schwer hörgeschädigte Kinder und Erwachsene. Es ist die einzige Sinnesprothese, die heute erfolgreich in der Praxis eingesetzt wird. Sie kommt zum Einsatz, wenn herkömmliche Hörgeräte nicht mehr weiterhelfen. Sprache und Töne wandelt das CI in elektrische Signale um, die die Nervenfasern des Hörnervs im Innenohr stimulieren. Die Elektroden, deren Funktionsweise Steinhoff überprüft hat, übernehmen dabei eine zentrale Rolle. Normalerweise wandern die Schallwellen durch den Gehörgang und das Mittelohr zur Cochlea. Diese besteht aus drei kleinen, mit Flüssigkeit gefüllten Kanälen. Ankommende Schallwellen wandern durch die Flüssigkeit und stimulieren Tausende feiner Härchen, die auf den Haarzellen sitzen. Die Haarzellen wandeln die mechanischen Schwingungen in elektrische Pulse um, die wiederum die Nervenfasern stimulieren. Und diese leiten dann die Informationen an das Gehirn weiter.

Fehlende beziehungsweise geschädigte Haarzellen führen zu Gehörlosigkeit. Sind die Nervenfasern noch intakt, kann ein CI helfen. Äußerlich gleicht es einem konventionellen Hörgerät. Es besteht aus zwei Systemteilen, einem internen Implantat, das unter der Haut hinter dem Ohr plaziert wird, und einem externen Teil mit Mikrofon und Sprachprozessor, der genau an der Stelle des Implantats sitzt und mit Magnetkraft gehalten wird. Sprache und Ton werden durch die Haut in das Implantat und von dort zu den Reizelektroden der Cochlea übertragen.

Wo Elektronik im Spiel ist, werden Spezialisten gebraucht – insgesamt drei Ingenieure gibt es in der Audiologie an der HNO-Klinik. Am gesamten Klinikum sind etwa siebzig beschäftigt, die meisten allerdings in der Forschung. Steinhoff arbeitet mit den Patienten. Er ist nicht nur bei den Operationen dabei, sondern entscheidet mit, ob eine OP sinnvoll ist oder nicht, berät die Patienten davor und betreut sie danach.

Nachdem das CI einmal eingesetzt ist, ist für den Patienten ein intensiver Rehabilitationsprozess von in der Regel drei Monaten notwendig, zu dem der Besuch beim Logopäden gehört – und bei Steinhoff. „Das ist ein zweiseitiger Anpassungsprozess. Das Gehör muss sich an das Gerät anpassen und umgekehrt”, sagt er. Dabei braucht Steinhoff nicht nur das technische Know-how, sondern vor allem psychologisches Fingerspitzengefühl : „Manche Patienten sind anfangs sehr deprimiert, da sie noch nicht richtig hören können”, sagt er. Zudem ist für viele der Klang des CI sehr ungewohnt, künstlich, blechern.

Montagnachmittag, 15 Uhr: Willy Höhne ist zur Anpassung bei Steinhoff. Im Frühjahr hat er sich ein CI einsetzen lassen. Höhne ist selbst Ingenieur und kann Steinhoff ziemlich genau erklären, wo es noch Probleme gibt: „Die Elektrode drei passt noch nicht, gerade bei den Zischlauten.” Höhne trägt das CI als Ergänzung zu seinen Hörgeräten. Jahrelang litt er unter fortschreitender Schwerhörigkeit, zwei Hörgeräte halfen nicht mehr: „Plötzlich waren ganze Konsonanten wie s, k oder t weg”, erzählt er. „Irgendwann wird dann der Leidensdruck zu groß” – und Höhne entschied sich für ein CI. Steinhoff war anfangs dagegen, weil Höhne noch zu viel Hörvermögen hatte: „Früher wurden CIs nur tauben Patienten eingesetzt, mittlerweile auch solchen Menschen, die stark hörgeschädigt sind.”

Bei der Sitzung geht es noch einmal darum, zwei Schwellenwerte zu bestimmen, vom Nichtwahr-nehmbaren zum Wahrnehmbaren und den oberen Wert von laut zu unerträglich laut. Steinhoff entfernt das Batteriestück von Höhnes Gerät und schließt es an die Hardware an. Auf dem PC-Bildschirm sind zwölf Balken zu sehen, einer für jede Elektrode, die in der Cochlea liegt. Steinhoff stimuliert jede Elektrode einzeln, Höhne deutet dabei auf eine Tafel, auf der die unterschiedlichen Lautstärken von leise bis unerträglich laut abgebildet sind. „Bei den Anpassungen geht es darum, für den Patienten einen schönen, sauberen Ton zu finden.”

Das Cochlea-Implantat und die Arbeit mit den Patienten macht etwa vierzig Prozent von Steinhoffs Tätigkeit aus. Als Leiter der Audiologie ist der gelernte Elektroingenieur außerdem für Personalplanung, für die Datenbank der HNO-Klinik und für die Gerätschaften zuständig. Er selbst hat einen Messapparat für die objektive Audiometrie entwickelt. Dabei geht es darum, zu erkennen, wie gut ein Patient hört, ohne dass er selbst etwas dazu tut. Vor allem bei Kleinkindern ist es notwendig, objektive Messgeräte zu haben, um frühzeitig Taubheit oder hochgradige Schwerhörigkeit zu erkennen.

Steinhoff ist auch bei der Morgenkonferenz dabei, wenn sich die Mediziner versammeln und den Tagesablauf besprechen und wichtige Entscheidungen für die Behandlung von Patienten fällen müssen. Mittlerweile fühlt er sich selbst als „halber Mediziner.”

Süddeutsche Zeitung, Ingenieure, 11.11.2006